KUNST, ZEUGENSCHAFT UND ZEUGENBEWUSSTSEIN
Gedanken zur Kraft der Zeugen bei individuellen und kollektiven Traumata
Gestaltendes Zeugenbewußtsein
Während ich mit meiner Vespa durch die Landschaft fahre, die heute einen der spektakulärsten Wolkenwasserfälle der letzten Jahre zeigt, bevölkern Worte meinen Kopf. Manchmal Einkaufslisten, manchmal Langweiliges, wo ich mich über dies oder das geärgert habe.
Aber manchmal sind es auch die Worte einer Schreibenden, die Fäden spinnen zwischen dem, was an dem Tag an unmittelbaren Eindrücken meine Wortbahn kreuzt, ihr Nachhall in meinem Körper, Gelesenem, Gedanken anderer Menschen und dem Unkalkulierbaren, was aus diesen Verbindungen wächst. In dem Moment ist eine besondere Form von Zeugenbewusstsein eingeschaltet.
In Ermangelung eines besseren Wortes nenne ich es einmal gestaltendes Zeugenbewusstsein. Es ist ein merkwürdige Verbindung aus unmittelbarer Beteiligung, Beobachtung dieses Beteiligtseins und Formgebung. Formgebung, Gestaltung, manchmal mit Worten, manchmal mit Bildern, manchmal mit etwas aus dem Land dazwischen.
Betrachtende und betrachtetes Objekt in einem
Das Zeugenbewusstsein spielt nicht nur im Buddhismus eine große Rolle, sondern auch bei dem Philosophen Karl Jaspers, dessen Gedanken zur Subjekt-Objektspaltung ich in einer fürchterlichen Zeit mit 15 Jahren dahin vielleicht die Tür geöffnet hat. Ich erinnere mich noch, dass ich geradezu high war von der Erkenntnis, dass ich auf wundersame Weise gleichzeitig betrachtendes Subjekt und Objekt dieser Betrachtung sein kann. Und dass ich durch ein weiteres Wunder dieser Betrachtung auch noch Worte geben kann, die das Spiel nicht nur abbilden, sondern machtvolle Mitspieler werden. Die Kunst in ihren unterschiedlichsten Formen fügt dem noch ein weiteres Element zu: des Gestaltens aus der Bezeugung heraus. Manchmal halte ich dann irgendwo auf der Strecke an, wie gestern an einer Autobar, deren Besitzer mich schon kennt und als Begleitung zur Musik aus dem Radio zahnlos Gitarre spielt. Und dann spreche ich in mein Handy, das durch technische Magie meinem Worte in Text verwandelt.
Vor einigen Tagen schickte mir eine Freundin einen Text zu einem Projekt, dass sich mit der Bedeutung von Zeugenschaft bei Traumata beschäftigt. Zeugenschaft im Sinne einer Öffentlichkeit, die “das war so und das war schlimm” bezeugt hat eine große Heilkraft.
Zeuge und Erleidender: Viktor Frankl im Konzentrationslager
Wir Menschen brauchen das Antworten und Zu-uns-hinsprechen eines mitfühlenden Zeugen – sei es für das, was uns individuell widerfahren ist oder für die großen Themen kollektiver Wunden. Künstler vermögen manchmal mit ihren verschiedenen Ausdrucksformen denjenigen eine Stimme zu geben, denen angesichts des Erlebten eine schreckerstarrte Stummheit die Sprache lähmt. Ist man selber als Künstlerin Teil des Schreckens, kann das Annehmen dieser Aufgabe als bezeugende und gestaltende Beobachterin etwas Rettendes haben. Was da an Kräften wirksam wird, ist mir durch das Buch “Trotzdem Ja zum Leben sagen” von Viktor Frankl bewusst geworden. Darin schildert er seine Doppelrolle als Beobachter, Auswertender und Erleidender im Konzentrationslager. Die Beobachtung und Ausgestaltung dieser Beobachtung in einem sicher für viele Menschen lebensprägenden Buch hat dem Erlittenen eine ganz eigene Sinndimension gegeben, ohne das Leid zu beschönigen oder zu bagatellisieren.
Zeugin des Vulkanausbruchs von La Palma 2021
Zur Zeit stelle ich die ganzen Fotos und Texte aus der Vulkanzeit zu einem Bild-und Textband zusammen. Hunderte Bilder, mehr als 20.000 Worte, die gesichtet und wie die Erbsen von Cinderellas Tauben aussortiert werden wollen. Es hat etwas seltsam Bewegendes, auf diese Weise zu sehen, dass mein gestaltendes Zeugenbewusstsein von Stunde eins, dem Erscheinen der ersten Rauchwolke über Tazacorte, aktiv war. Etwas in mir hat in einer seltsamen Mischung aus Unbewusstheit, Unabsichtlichkeit und der Annahme eines unablehnbaren Auftrages tagtäglich etwas Künstlerisches gemacht. Es geschah gleichzeitig mit Bewegungen, in denen auch mein Nervensystem durch die ständigen Erdbeben und das Gebrüll des Vulkanes zerrüttet wurde und die Luftlosigkeit durch die Asche und die Gase so lange zunahm, bis ich nicht mehr an meinem Wohnort bleiben konnte. Beteiligt und unbeteiligt. Viel weniger beteiligt als die Mehrheit meiner Freunde, die ihre Häuser verloren haben. Viel mehr beteiligt als die, die nur 20 km weiter im Norden der Insel leben. Und in gewisser Weise gesegnet in diesem Zwischenraum, weil er für mich erfassbar gemacht hat, was eine der großen Gnaden unseres Bewusstseins ist: dass wir auch in schlimmen Situationen Zeuginnen und Gestalterinnen sind, die, so hoffe ich zumindest, nicht nur uns selber eine Stimme geben.
(c) Judith de Gavarelli Juli 2022