MODE LESEN
Vulkanausbruch La Palma: über Alltagserzählungen in der Zeit danach
Löcher in der inneren Erzählung
Gestern war ich nach langer Zeit einmal wieder in Santa Cruz, der kleinen Hauptstadt von La Palma. Vorher hatte ich von den Hungersnöten in Sri Lanka gelesen, das einmal mit seiner überwältigenden Grünkraft ein innerer Zufluchtsort war. In Santa Cruz sind, obwohl es sich in einem ganz anderen Teil der Insel befindet als der Vulkanausbruch, viele meiner Lieblingsorte verschwunden. Bars, Restaurants, Geschäfte wie die vor Kreativität immer wieder aufs Neue explodierende Modeboutique CACA DE LA VACA mit ihren beiden riesigen rosa Pudeln vor der Tür. Meine innere Erzählung dieser Orte hat Löcher bekommen, Durchschüsse, leere Stellen, die einmal mit etwas ganz anderem gefüllt waren. Ausradierte Schriftzeichen in meiner Erzählung dieser Stadt, gelöscht vom ausbleibenden Tourismus, Corona, dem Vulkan.
Ein Versuch, Mode zu lauschen
Weil mein Geist sich offenbar nach dem Zusammenfügen von Erzählungen sehnt, bin ich einmal wieder einem meiner vielen Hobbys nachgegangen: dem Versuch, die Erzählungen der aktuellen Model zu erlauschen. Eine, die deutlich hörbar war, sind die Schnitte aus den 50er Jahren. Dort sehnte man sich nach den Kriegszeiten nach einer heilen Welt, eine Sicherheit gebenden, hochgeschlossen Häuslichkeit, die Körper mit engen Oberteilen und ausgestellten Röcken als Sanduhren betont, die die Zeit vorher vergessen lassen sollten. Kombiniert sind diese Schnitte aktuell mit poppigen, oft südamerikanischen Farben.
Zitate von Frida Kahlo
Die ohnehin hier hoch im Kurs stehende Frida Kahlo ist omnipräsent. Sie erzählt vom farbenprächtigen Feiern des Lebens angesichts großer Schmerzen und Einbrüche. Manche Farben erinnern an den mexikanischen “dia de los muertos”, bei dem das Leben angesichts des Todes gefeiert wird. Vor allem die Kombination von pink und smaragdgrün. Eben noch ist mir eine Frau in einer solchen Bluse entgegengekommen, die vor einem Jahr hier nicht zu sehen war. Stickereien erinnern an Handarbeit – nicht die Geborgenheit der Eltern, sondern die der Groß- und Urgroßeltern. Eine Nostalgie die etwas von Zeiten berichtet, in der aufwändig selbst hergestellte Trachten die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft feierten.
(c) Judith de Gavarelli Mai 2022
PS: Danke an Ines Gottschalk für die Impulse, die vielfältigen Erscheinungen von Kulturen als Erzählungen zu begreifen