VON DER WEITUNG DES HOMO NARRATOR UND PAUL CELANS ENGFÜHRUNG

Homo Narrator und das Abreißen der Erzählung bei Traumata

Vor einigen Tagen entdeckte ich in einem Text zu Erzähltheorie von Jürgen Straub den interessanten Begriff des ” Homo narrator”- oder wie man sein weibliches Pendant hier benennen würde die “mujer narradora”. Wobei mich der Begriff eher daran erinnert, dass jenseits von history und herstory das Verweben der in der Zeit erfahrenen Welteindrücke zu Erzählungen etwas fundamental Menschliches ist.

Ein Kennmerkmal von Trauma ist, dass die Erzählung abreißt. Wir stottern und stammeln und es fehlt uns nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich an dem Wortgarn, dass das Erlebte sinnhaft verweben kann. Erzählkraft dagegen ist eine entscheidende Gabe unserer Resilienz.
Wer erzählen kann, der weitet sich. Wer ein Gewebe aus Vergangenheit und Gegenwart herstellen kann, bringt sich in den Besitz des mythischen roten Fadens, aus dem Zukunft gewebt wird.
Das Abreißen der Erzählung dagegen ist immer eine Verengung. Im niederländischen heißt das Wort eng “beängstigend”, was die Rolle der Angst bei unseren Lebensverengungen in das Feld unserer assoziativen Verbindungen wirft.
Paul Celans Gedicht “Engführung”

Kaum jemand hat für mich das Abreißen der Erzählung in der traumatischen Bewusstseinsfragmentierung so erlebbar gemacht wie Paul Celan in seinem Gedicht “Engführung”, hier unter diesem Link großartig gesprochen https://www.lyrikline.org/de/gedichte/engfuehrung-159

“Gras, Gras auseinander geschrieben” diese Gedichtszeile weckt nicht nur die Assoziation der durch die marschierenden Schritte bei den Todesmärschen, an denen Celan teilnahm, auseinander gerissenen Grasteppichen. Es führt uns auch zu einem Kraftakt des sich Hindurchstammelns aus fast besinnungsloser Zersplitterung zu der Erkenntnis in den Worten “also stehen dann noch Tempel, ein Stern hat ja noch Licht, nichts, nichts ist verloren”.
Obwohl diesem Gedicht Merkmale klassischer Erzählungen fehlen, macht es doch eine verwandelnde Bewegung durch die Zeit und entfaltet eine der magischen Wirkungen von Erzählkraft. In Zeiten tiefster Dunkelheiten von mir in jungen Jahren hat mich dieses Gedicht daran erinnert, dass auch etwas in mir zu dieser inneren Erzählung aus der Fragmentierung in ein zusammengehöriges Hoffnungsgewebe fähig ist. Heute glaube ich, es ist gerade deswegen möglich, weil das Gedicht mitten in die Fragmentierung hinein führt und sie dadurch, dass es ihr einen Namen gibt, aus einem diffusen Weltgestöber zu etwas macht, von dem aus wir losgehen können – diesmal nicht auf einen Todes-, sondern einen Lebensmarsch.
Sich in neue Orte hineinerzählen

Wer flüchtet, durch Gewalt seine innere Heimat verliert oder durch eine Naturkatastrophe seiner Lebensgrundlage beraubt wird, muss sich nicht nur in eine neue Zeit, sondern auch neue Orte hinein erzählen.

Von heute bis Samstag findet hier auf La Palma ein Vulkan Poesiefestival statt. Ich freue mich, dass es hier Wortweberinnen gibt, die die Enge von Heimatverlust und der zerschnittenen Landschaft ein wenig durch ihre Webbewegungen weiten können. Ich wünsche mir zutiefst, dass mein Spanisch einmal gut genug wird, um auf diesen Ebenen mitweben zu können.
Und bin gleichzeitig beglückt, dass ich zumindest ein paar deutsche Worte und ein Ohr dazu legen kann, dass vielleicht nicht jedes Wort, aber die Geste dahinter begreift: die existenzielle Geste von uns Erzählenden und uns in Erzählungen immer wieder neu webenden Menschen.

(c) Judith de Gavarelli Juni 2022